Mutismus ist eine komplexe Angst- und Verhaltensstörung, die vorwiegend im Kindes- und Jugendalter auftritt. Man versteht darunter die Sprechhemmung oder das Schweigen nach vollzogener Sprachentwicklung bei intakter Hör-, Sprach- und Sprechfähigkeit. Man unterscheidet zwei Formen: den (s)elektiven Mutismus und den totalen Mutismus. Der (s)elektive Mutismus äußert sich dadurch, dass der Betroffene nur manchmal kommuniziert, d.h. er kann sprechen, spricht aber nur in einem unbewusst ausgewählten Personenkreis bzw. in spezifischen sozialen Situationen, ansonsten nicht. Nicht der Betroffene selbst bestimmt darüber, in welcher Situation er redet, sondern die Situation selbst diktiert es ihm. Im engsten Familienkreis, also gegenüber Eltern und Geschwistern, ist eine Kommunikation meist möglich, aber schon bei den Großeltern kann eine sprachliche Kommunikation unmöglich sein. In seltenen Fällen tritt der Mutismus gerade bei den nächsten Bezugspersonen und nicht außerhalb der Familie in Erscheinung. In seltenen, aber schweren Fällen liegt eine völlige Kommunikationshemmung vor, bei dem der Betroffene weder innerhalb noch außerhalb der Familie spricht. Einige Kinder mit Selektiver Mutismus glauben, dass sie in einigen Situationen nicht sprechen können und daher ihre Atmung, Stimme oder Artikulation möglicherweise nicht richtig einsetzen. So können sie sich daran gewöhnen, nicht zu sprechen und nehmen dadurch dasSelbstbild des nicht sprechenden Kindes an. Diese sich selbst erfüllende Prophezeiung kann ohne angemessene Intervention bestehen bleiben. Je früher der Eingriff, desto besser!
Das teilweise oder totale Schweigen geht in der Regel mit einem sozialen Rückzug einher. Häufig fehlen beim partiellen oder totalen Mutismus auch Lautäußerungen jeglicher Art wie z.B. Lachen und Weinen, aber auch Husten, Niesen, Räuspern und Atemgeräusche. Die Mimik der Betroffenen ist maskenhaft, hölzern, monoton ernst oder gleichgültig. Der Blickkontakt wird vermieden oder geht leer durch den Kommunikationspartner hindurch. Auch ganzkörperliche Bewegungen wirken angespannt und steif, verzerrt oder verlangsamt. In vertrauter Umgebung, in der sich die (s)elektiv mutistischen Kinder sicher und entspannt fühlen, können sie unbeschwert kommunizieren. Das soeben noch schweigende Kind spricht dann lebendig und ungehemmt, häufig sogar überdurchschnittlich viel, um das an anderer Stelle aufgetretene Schweigen zu kompensieren. Auch der mimisch-gestische und ganzkörperliche Ausdruck wirken entspannt und wie von einer Last befreit. Kinder mit totalem Mutismus zeigen dieses wechselhafte Verhalten nicht; sie kommunizieren evtl. über den Einsatz alternativer Mittel wie z.B. Gestik oder Schriftsprache.
Da lautsprachliche Kontaktversuche von außen bei teilweisem oder totalem Schweigen häufig komplett fehlschlagen, werden die Betroffenen oft fälschlicherweise für geistig zurückgeblieben oder autistisch gehalten. Eine differenzierte interdisziplinäre Diagnosestellung ist deshalb von besonderer Bedeutung.
Eine direkte einzelne Ursache für das teilweise oder totale Schweigen ist zurzeit nicht bekannt. Grundsätzlich muss von einer multifaktoriellen Verursachung ausgegangen werden. Es kommen sowohl psychologische Faktoren wie Stress, entwicklungshemmende Milieueinflüsse, Lernprozesse oder Anpassungserschwernisse bei Migrationshintergründen als auch physiologische Faktoren wie die Unterversorgung von Serotonin im Hirnstoffwechsel, eine Übererregung der Amygdala (des sogenannten Angstzentrums im Gehirn) oder Entwicklungsstörungen in Frage. Die häufigste organische Ursache ist eine familiäre Anlage (Disposition) für ein gehemmtes Kommunikations- und Sozialverhalten, aber auch Ängste und Depressionen. Totaler Mutismus kann sich entweder als dramatische Verlaufsvariante eines in der Kindheit begonnenen teilweisen Schweigens entwickeln oder – ausgelöst durch ein seelisches Trauma bzw. im Rahmen einer psychiatrischen Grunderkrankung (z.B. einer Psychose oder endogenen Depression) – plötzlich entstehen. Als sensible Entstehungsphasen gelten der Eintritt in Kindergarten oder Schule.
Zur Behandlung des Mutismus stehen den behandelnden Ärzten und Therapeuten verschiedene Therapiemaßnahmen zur Verfügung, die je nach Befund, Alter und individueller Ausprägung einzelfallorientiert kombiniert werden. Ein Arzt (Psychiater, Kinderarzt) kann Medikamente verschreiben, die die Angst lindern, die der Unfähigkeit in bestimmten Situationen zu sprechen, zugrunde liegt.
In meiner Praxis biete ich die Behandlung des Mutismus nach verschiedenen Verhaltens- und kognitive Verhaltensstrategien aus den Niederlanden und der USA an. Verhaltensstrategien beziehen sich auf die Erstellung eines Schritt-für-Schritt-Plans, bei dem das Kind nach und nach immer schwierigeres Sprechverhalten ausführt, sowie auf die Entwicklung eines Systems positiver Verstärkung, wann immer das Kind in der Lage ist, diese Verhaltensweisen auszuführen. Es gibt mehrere Verhaltensstrategien. Sie sind am effektivsten, um das Kind dabei zu unterstützen, Fortschritte beim Sprechen zu erzielen und aufrechtzuerhalten, wenn sie verwendet werden. Kognitive Strategien beinhalten die Identifizierung ängstlicher Gedanken, die zum schweigenden Verhalten beitragen. Zu den Techniken gehören das Erkennen von körperlichen Symptomen von Angst, das Erkennen und Hinterfragen von unangepassten Überzeugungen und die Entwicklung eines Bewältigungsplans, um mit Stress umzugehen.
Neben einer ausführlichen Elternberatung wird durch gezieltes Training schrittweise die Angst vor der (mündlichen) Kommunikation abgebaut. Dabei werden zunächst nur flüsternde und andere natürliche Lautäußerungen ausgelöst, später einzelne Wörter, schließlich ganze Sätze. Über eine gelenkte Spontansprache wird der Einsatz des Sprechens in realen Alltagssituationen und im sozialen Miteinander geübt und schließlich in ein ungehemmtes freies spontanes Kommunikationsmuster geführt.